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Bildungsstreik 2009
Categories: bewegung
Überall proben SchülerInnen und Studierenden in diesen Tagen den Aufstand. Zum “bundesweiten Bildungsstreik 2009” werden heute mehrere hunderttausend Menschen auf die Straße gehen. Im Folgenden dokumentieren wir einen Aufruf aus anarchistisch-syndikalistischer Sicht.

Aufruf der anarchistisch syndikalistischen Jugendgruppen:

Die gegenwärtige Bildungspolitik und ihre Konsequenzen sind tief greifender, sowie allumfassender in die kapitalistische Totalität einzuordnen. Die Anhänger der Streik- und Protestbewegungen streben eine Verbesserung der aktuellen Strukturen an und setzen auf Reformen im Bildungssystem. Zu den Forderungen der SchülerInnen gehören:

  • Eine Schule für Alle – Weg mit dem mehrgliedrigen Schulsystem
  • Kostenlose Bildung für Alle
  • Mehr LehrerInnen, kleinere Klassen
  • Beendet den Einfluss der Wirtschaft auf die Schulen!
  • Gegen Schulzeitverkürzung! Wie dem G8-Abitur!
  • Schluss mit Repressionen gegen Schüler und Schülerinnen
  • Für eine Demokratisierung des Bildungssystems!

Die Bewegung setzt zur Durchsetzung dieser Ziele in erster Linie auf symbolische Aktionen. Dazu gehört u.a. das Erstellen von Aufklebern, Postern, mit ihren Forderungen, das Verteilen von Infoflyern und zuletzt die Durchführung eines einmaligen Streiktags gefolgt von denzentralen Aktionen und Demonstrationen. Doch hier stellt sich die Frage, ob sich dadurch die Verhältnisse nach Abschluss des Streiktages oder nach Abschluss der Aktionswoche im Juni verändern und diese gemäß den Forderungen radikal gekippt werden. Die Aussicht einen gesamten Erfolg, d.h. die Durchsetzung aller genannten Ziele, bleiben unrealistisch. Dies liegt mit Sicherheit nicht an den Kompetenzen der OrganisatorInnen oder der StreikteilnehmerInnen.

Die Ursache für einen Misserfolg liegt wohl eher in dem Gesamtverständnis und der Einordnung des Bildungssystems in das Gesamtsystem.

Das kapitalistische System definiert sich selber über „Gewinnen und Verlieren“ und da ist es logisch, dass die Spreu schon früh vom Weizen getrennt werden muss. Das mehrgliedrige Schulsystem beweist sich als praktisch, durch die frühe Selektion von „Gewinnern und Verlierern“, von „Starken und Schwachen“. SchülerInnen die versagt haben, besuchen die Hauptschule, SchülerInnen die gewonnen haben, das Gymnasium. Da die Selektion abgeschlossen ist, kann jeder Gruppe einzelner SchülerInnen, gemäß ihren Leistungen auf die Berufswelt vorbereitet werden. Lästige SchülerInnen, die in Mathematik oder Deutsch auf der Grundschule enorme Probleme hatten und sich daher als untauglich erwiesen, behindern nicht länger das ungebremste Tempo vom Abitur in 12 Jahren, die Vorbereitung auf zentrale Prüfungen usw. Die Anforderungen verstärken sich nicht nur in Disziplin, Gehorsam und eingeschränktem Mitspracherecht, sondern auch in der Selbstfinanzierung der Bildungszeit. Auch in diesem Prozess wird schnell bemerkbar mit welch enormen Druck, eine gute Leistung erzwungen wird. Jedes solidarische Handeln wird durch Leistungsdruck und Kopfnoten unterbunden, denn im kapitalistischen System verlieren, die die Mitleid zeigen. Die die helfen wollen stehen nicht im Begriff ein/e „GewinnerIn“ zu sein/werden. SchülerInnen, die selbstständig Denken und sich nicht konform den staatlich anerkannten Methoden zeigen, oder jenes versuchen zu provozieren, erfahren durch Disziplinarverfahren, Bedrohung mit Schulverweis etc. krasse psychische Repressionen und werden so zur stillen Anerkennung der geltenden Regelungen erpresst.

Um im Kapitalismus erfolgreich mitmischen zu können, sind die Anforderungen des selbigen gewissenhaft zu erfüllen. Kristallisiert sich „stark von schwach“ nicht schon frühzeitig heraus, fällt der/die SchülerIn schnell zwischen die Räder. Die individuellen Fähigkeiten, die Entwicklung und die Bedürfnisse stehen dem einheitlichen Leistungskorsett ohnmächtig gegenüber – friss oder stirb, verdammt mit zu spielen oder zu verlieren. Mündigkeit und selbstständige Individuen sind Phrasen von den Institutionen des Kapitals. Wer entsprechende Leistungen bringen kann, der/die fällt nicht durch das Verwertungsraster.

Die entsprechende Leistung kann nur von denen erwartet werden, die sich schon früh dem Leistungsprinzip der kapitalistischen Logik beugen, mitmachen und andere wiederum darauf vorbereiten.

Aus genannten Gründen sind daher Reformen im Schulsystem zum Scheitern verurteilt. Ohne diese Art von Schulsystem lässt sich, wie erwähnt, keine Bildungselite bestimmen, die schon früh die Anforderungen des Kapitalismus meistern und sich in diesem erfolgreich bewähren kann.

Wollen wir langfristige und konsequente Veränderungen der Schulsysteme erkämpfen, müssen wir von Reformversuchen des Kapitalismus absehen und uns Konzepte emanzipatorischer, sozialistischer und libertärer Gesellschaftsmodelle vertraut machen, um Staat und Kapital überwinden zu können. Erst die Überwindung- von reich und arm, von stark und schwach, von gewinnen und verlieren- von den alltäglichen Widersprüchen, die bereits während der Einschulung eines Kindes reproduziert werden und weitere Lebenswege bestimmen, ermöglichen ein Bildungssystem, das nicht durch diese Widersprüche gebrandmarkt ist. Die Vorbereitung auf ein Leben in Gleichheit, Solidarität und Toleranz kann nicht erzwungen werden, schon gar nicht in einem System, welches genau, aufgrund seiner Beschaffenheit, das Gegenteil dieser Werte erzeugt. In diesem Kontext ist es utopisch zu verlautbaren, Bildung könne wieder Spaß machen.

Bildung kann mit Sicherheit Spaß machen. Doch dazu muss sie von den SchülerInnen freiwillig eingefordert werden. Zu einem Selbstzweck, der nicht nur zum überleben dienlich sein soll, wo Motivation und Fleiß nicht erzwungen werden. Sie soll jeder/m Lernenden die Möglichkeit geben nachzuvollziehen, wohin der individuelle Bildungsweg führen kann. Bildung muss Perspektiven eröffnen, seine individuellen Fähigkeiten selber einschätzen zu können und diese nach eigenem Gewissen und Maßstäben zu erweitern. SchülerInnen die andere Lernvoraussetzungen brauchen und nicht der gängigen Definition von begabt entsprechen, dürfen nicht auf den Müllhaufen der Gesellschaft landen, sondern benötigen, wie alle ein Lernumfeld, welches ihren Bedürfnissen entspricht und indem ihre Fähigkeiten gefordert und gefördert werden. Umfassende, ganzheitliche und integrale Erziehung und Bildung ohne Zwang und sinnlosem Selbstzweck sind die Grundpfeiler einer libertären Gesellschaft.

Aber warum mitmischen bei den Schulstreiks?

Als anarchosyndikalitische Jugendgruppen streben wir eine Basisorientierte und selbstständige Organisation von sozialen Bewegungen an. Dabei lehnen wir jeden Einfluss von Parteien oder anderen machtpolitischen Institutionen ab. Wir sind der Auffassung, dass eine freiheitliche Gesellschaft auf Basis freiwilliger Assoziationen von Betrieben, Kommunen, Schulen, Universitäten etc. von unten nach oben funktioniert.

Die SchülerInnen- und StudentInnenbewegungen sollten sich denken können, dass die Erfüllung ihrer Forderungen nicht von Politik oder anderen Institutionen zu erhoffen sind und daher eine von der Basis organisierte soziale Bewegung zur Verbesserung der eigenen Lage nötig ist. Es ist notwendig, selbstbewusst die Sache selber in die Hand zu nehmen und umzusetzen. Die Ziele in den Aktionen und der Organisation schon zur Geltung kommen zu lassen, das ist die direkte Aktion. Die letzten Streiks im November haben gezeigt, dass es ein langer Prozess ist, sich Gehör zu verschaffen. Noch vor Beginn der Aktionswoche wurden die Bewegungen in den bürgerlichen Medien weitgehend (bewusst?) ignoriert. Dies hat sie aber nicht zum Aufgeben gezwungen. Im Gegenteil, die Basis hat sich verbreitert und sie wirkt selbstbewusster. Bundesweit finden regelmäßige Treffen, nicht nur regional, überregional, sondern auch Länder übergreifend statt. Das Aktionspotential und der Wille zur Veränderung sind enorm. In vielen Städten sind junge AnarchosyndikalistInnen und andere linksradikale Gruppen maßgeblich an den Protesten beteiligt. Sie haben es nicht nur geschafft, viele SchülerInnen und StudentInnen zum mitzumachen zu bewegen, sondern sie gehen so oder so gestärkt aus der Situation heraus. Dies äußert sich nicht nur in der Organisation vieler neuer emanzipatorischer und radikaler Gruppierungen, sondern auch in der Stärkung bereits existierender Gruppen. Viele junge Menschen kommen erst während der Bildungsbewegungen mit alternativer und linksradikaler Theorie und Praxis in Kontakt und erkennen ihre Notwendigkeit. Deswegen können wir mit Sicherheit behaupten, dass während der Höhepunkte der Bildungsbewegungen sich wieder viele junge Menschen zu einer neuen Sichtweise ihrer tatsächlichen Bildungsmisere hinreißen lassen, und kundtun, dass Mündigkeit auch heißt, das Maul auf zu machen und selbst zu handeln.

Die Erkenntnisse, die sich in den Bewegungen gewinnen lassen, werden automatisch zum Hinterfragen stimulieren und eine radikalere Kritik am Bildungssystem in Bezug auf Staat und Kapital wird nötig sein, um Zusammenhänge besser verstehen zu können. Mit Blick auf Griechenland, Italien und Frankreich wird deutlich, was geschehen kann, wenn SchülerInnen und StudentInnen fähig werden die Situation ihrer Lage zu erkennen und zu hinterfragen. Wenn dann noch die soziale Frage in den Kontext der Bildungsbewegung eingeordnet wird, fokussiert sich der Aufstand über die Forderungen für bessere Bildung hinaus. Und zwar mit dem Aufruf zum generellen Klassenkampf, welcher die Verbesserung sämtlicher Lebensbereiche und die Aneignung aller Produktionsmittel durch die soziale Bewegung beinhaltet.

So oder so bleibt es unausweichlich, dass die Systemfrage früher oder später gestellt werden. Wir müssen vorbereitet sein, die richtigen Antworten zu geben und wir müssen ebenso fähig sein, zu erklären, dass der Kampf nicht allein gegen das Bildungssystem geführt werden muss, sondern vor allem gegen Staat und Kapital.

Auf in den Bildungsstreik!

„Nehmt euch was ihr kriegen könnt, und gebt nichts davon zurück!“
frei zitiert nach Captain Jack Sparrow in „Fluch der Karibik“

Aktuelle Informationen zum Streik in Bochum auf bildungsstreik-bochum.de.

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